Fahrzeuge im Porträt
Pollo-Museumswagen 970-855 im Porträt (Teil 1)
Anfang Mai 2013 wird der Verein „Prignitzer Kleinbahnmuseum Lindenberg e.V.“ (PKLM) einen aus Sachsen stammenden vierachsigen Personenwagen mit Oberlicht als Museumsfahrzeug in Betrieb nehmen. In den vergangenen Monaten war über diesen als 970-855 geführten Wagen schon mehrfach im PK kurz berichtet worden. Im Vorfeld seiner Wiederinbetriebnahme soll nun hier ein ausführliches Portrait dieses Fahrzeugtyps im Allgemeinen und des Museumswagens im Besonderen gezeichnet werden.
Die Wagen der Bauart lfd. Nr. 715/716
Bereits in den 1880er Jahren experimentierten die K.Sächs.Sts.E.B. auf ihren schmalspurigen Sekundärbahnen mit verschiedenen vierachsigen Personenwagen. In den 1890er Jahren setzte sich ein Typ mit durchgehendem Oberlichtdachaufbau und Zwillingsfenstern durch. Doch die 20 zwischen 1891 und 1896 gebauten Fahrzeuge dieser Art (als BCC unter der lfd. Nr. 717 und als CC unter der lfd. Nr. 726 geführt) wiesen die von den zweiachsigen Wagen dieser Zeit bekannte Breite von lediglich 1,99 m auf. Kurz vor der Jahrhundertwende stimmte die Generaldirektion der K.Sächs.Sts.E.B. dann dem Bau eines zwei Zentimeter kürzeren, aber dafür fast 20 Zentimeter breiteren vierachsigen Wagens 2. und 3. Klasse zu. Von diesen Fahrzeugen der Gattung BCC (im Fahrzeugverzeichnis unter der lfd. Nr. 716 geführt) entstanden von 1898 bis 1901 in den Eigenen Werkstätten der K.Sächs.Sts.E.B. in Leipzig und Chemnitz insgesamt 79 Exemplare. Die über Puffer 10,60 m langen und über Schienenoberkante 3074 mm hohen Vierachser hatten einen Drehzapfenabstand von 7,10 m, der Achsstand im Drehgestell betrug 1,30 m. Das kleinere 2.-Klasse-Abteil bot acht oder neun Sitzplätze (abhängig vom Vorhandensein eines Ofens), das größere 3.-Klasse-Abteil ohne Ofen 21 – mit Ofen und ab 1908 teilweise nachgerüstetem Abort hingegen 18 Sitze. Dank ihrer Stückzahl waren derartige Wagen auf sehr vielen, wenn nicht im Laufe ihres Einsatzzeitraumes sogar auf fast allen sächsischen Schmalspurbahnen anzutreffen. Um der hohen Nachfrage der Reisenden nach Plätzen der 3. Klasse gerecht zu werden, ließ die Generaldirektion von 1910 bis 1914 bei 71 der 79 Wagen die Sitze der 2. Klasse durch Bänke 3. Klasse ersetzen. Für die auf diese Weise zu Fahrzeugen der Gattung CC umgebauten Wagen legten die das rollende Material verwaltenden Beamten im Bestandsverzeichnis die lfd. Nr. 715 an. Die Wagennummern blieben nach diesen Veränderungen bis 1927 unberührt – die 79 „Oberlichtwagen“ belegten die Gruppen von 261K bis 265K sowie 271K bis 344K. In den 1920er Jahren kam es zu weiteren Änderungen bei der Bestuhlung und Klassenzuweisung der Wagen. So wurden 1922 z. B. 51 Wagen der 3. Klasse in die 4. Klasse herabgestuft, bei anderen Wagen ließ die RBD Dresden in dieser Zeit ein Traglastenabteil einrichten oder im kleineren Abteil alle Sitzbänke entfernen. Bei der Vergabe neuer Betriebsnummern erhielten die 1927 noch im Bestand befindlichen 78 Wagen deshalb heterogene Betriebsnummern: die 20 reinen 3.-Klasse-Wagen „Dresden K424“ bis K442 und K446, die vier Wagen 3./4. Klasse K701 bis K704 sowie die 54 reinen 4.-Klasse-Wagen K1245 bis K1298. Durch Verkäufe an andere Bahnverwaltungen, Ausmusterungen oder Abgaben für den Einsatz in östlichen Direktionen bzw. im Raum Kiew reduzierte sich der Bestand an einst unter der lfd. Nr. 716 geführten Wagen bis 1945 um knapp 30 Wagen.
Einsätze in der SBZ/DDR außerhalb Sachsens
Nachdem 1945/46 fast alle Kreis- und Kleinbahnen auf dem Gebiet der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) in Volkseigentum überführt worden waren, baten die damals auch für den Betrieb der Schmalspurbahnen in der Prignitz, um Pasewalk und im Raum Berlin zuständigen Landesbahnen Brandenburg (LBB) bei der RBD Dresden leihweise um Lokomotiven und Wagen. Die nun von SED-Mitgliedern geführte und von sowjetischen Offizieren überwachte Direktion kam diesem Hilfsgesuch nach und forderte die Dienststellen zwischen Zittau und Wilkau-Haßlau auf, für diesen Zweck Fahrzeuge zu benennen und 1948/49 bereitzustellen. Vor Ort legten die Wagenmeister fest, vor allem ältere und vom Zustand her schlechte Fahrzeuge abzugeben. Dabei handelte es sich häufig um vierachsige Oberlichtwagen … Nachdem die Deutsche Reichsbahn 1949/50 die Betriebsführung aller auf dem Gebiet der SBZ/DDR befindlichen Schmalspurbahnen mit Reiseverkehr übernommen hatte, kam es zwischen 1950 und 1954 zu weiteren Abgaben sächsischer Fahrzeuge in nördlichere Direktionen, z. B. nach Bergen und Putbus auf Rügen, aber auch nach Burg (b Magdeburg).
Zwischen 1948 und 1954 verließen (neben zahlreichen Fahrzeugen anderer Bauart) letztendlich insgesamt 13 vierachsige Oberlichtwagen die RBD Dresden nach Norden. Dabei handelte es sich um:
- 1 Abgabe ins spätere Netz Dahme
- 1 Abgabe ins spätere Netz Pasewalk (später um einen weiteren, zuvor nach Rügen umgesetzten Wagen ergänzt – wie es später auch zu anderen Umsetzungen innerhalb der nördlichen Direktionen kam)
- 2 Abgaben ins spätere Netz Perleberg
- 2 Abgaben ins spätere Netz Burg
- 3 Abgaben ins spätere Netz Nauen
- 4 Abgaben ins spätere Netz Bergen/Putbus
In den Reichsbahndirektionen Berlin, Magdeburg, Schwerin und Greifswald erhielten diese Wagen spätestens 1958 entsprechend ihrer Beheimatung neue Betriebsnummern:
- 970-201, -202 und -213 in Nauen
- 970-204 in Dahme
- 970-764, -773 bis -775 auf Rügen
- 970-751 in Pasewalk
- 970-802 und -813 in Burg
- 970-855 und -856 in Perleberg
Erwähnung sollen aber auch die beiden ursprünglich aus Sachsen stammenden Oberlichtwagen 970-203 und 970-211 im Netz Dahme finden. Bei diesen handelte es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um die 1940 von der RBD Dresden an die Wehrmacht abgegebenen Wagen „1260 Dre“ und „1258 Dre“.
Beide Fahrzeuge gelangten auf den durch das Militär genutzten Schmalspurbahnen im Raum Rehagen-Klausdorf und Sperenberg zum Einsatz, zu denen damals auch die Strecken der ehemaligen Jüterbog-Luckenwalder Kreiskleinbahnen gehörten. Nach Kriegsende wurden viele der verbliebenen Lokomotiven und Wagen wieder zivilen Zwecken zugeführt und auf der als Luckenwalde-Jüterboger Kleinbahn (später umbenannt in Luckenwalde-Jüterboger Eisenbahn) genutzt, wodurch die beiden genannten Oberlichtwagen 1949 in das Eigentum der RBD Berlin wechselten.
Damit waren Mitte der 1950er Jahre auf DDR-Gebiet in Summe 15 aus Sachsen stammende Oberlichtwagen außerhalb der RBD Dresden im Einsatz. Nach Stilllegung der Netze Pasewalk, Dahme, Nauen und Burg (b Magdeburg) kam es zu bereits erwähnten Umsetzungen – meist nach Bergen und Putbus. Der Einsatz von Oberlichtwagen außerhalb Sachsens endete im September 1978 auf der Insel Rügen mit der Ausmusterung von 970-202, der zu diesem Zeitpunkt allerdings mehrere Umbauten hinter sich hatte. Wie 970-203 und 970-211 (ex Dahme), 970-764, 970-773 und 970-774 auf Rügen; 970-802 und 970-813 im Burger Netz sowie 970-856 in der Prignitz war auch 970-202 in seinen letzten Einsatzjahren auf Rügen ohne Oberlichtaufsatz unterwegs. 970-774 hatte nicht nur ein flachgewölbtes Dach, sondern auch eine völlig neue Fensteraufteilung erhalten, wodurch er nur noch an seinem Fahrwerk als ehemaliger Oberlichtwagen zu erkennen war.
Oberlichtwagen nach 1945 in Sachsen
Ende der 1940er bis Anfang der 1950er Jahre strich die RBD Dresden mehr als 20 sächsische Reisezugwagen mit Oberlicht-Dachaufsatz aus ihrem Bestand. 13 weitere gab sie wie berichtet an andere Direktionen ab. 1958 erhielten in Sachsen nur noch elf (nicht wie im Wagenbuch von SSB-Medien Band 1 angegeben nur zehn) im regulären Reisezugdienst genutzte Oberlichtwagen eine neue Betriebsnummer: 970-301 bis 970-309 sowie 970-315 und 970-316. Unter den Nummern 970-310 bis -312 führte die Rbd Dresden ihre drei noch vorhandenen Aussichtswagen, die Anfang der 1930er Jahre aus Wagen der lfd. Nr. 715 entstanden waren. Als 970-313 und 970-314 waren ehemalige ZOJE-Wagen der lfd. Nr. 727 eingereiht.
Ein weiterer einst unter der lfd. Nr. 716 geführter Oberlichtwagen befand sich als Bahndienstwagen 979-003 im Bestand. Die letzten regulären Einsätze von vierachsigen Oberlichtwagen in Sachsen gab es im Mügelner Netz, wo 970-301 und 970-303 im Jahr 1968 ausgemustert wurden. Als Reservewagen befand sich zu diesem Zeitpunkt außerdem noch 970-316 im Cranzahler Bestand. 1971 wurde er ebenfalls ausgemustert, blieb aber wie die zwei zwischenzeitlich zu Bahndienstwagen umgezeichneten Schwesterfahrzeuge 979-014 (ex 970-302) und 979-024 (ex 970-309) erhalten. Diese drei Wagen brachte die Reichsbahn später zur Traditionsbahn Radebeul, 979-003 gelangte nach Rittersgrün.
Der Wagen 970-855 Erstbesetzung
Den 25. Wagen der lfd. Nr. 716 – 1899 in den Eigenen Werkstätten der K.Sächs.Sts.E.B. gebaut – stellte die Generaldirektion mit der Betriebsnummer K.290 in Dienst. Gemäß einer Beschriftungsvorgabe war der die Spurweite von 750 mm angebende Großbuchstabe K ab 1900 hinter die Wagennummer zu setzen. Da der Wagen 290K Mitte der 1920er Jahre über eine der 3. und 4. Klasse zugeordnete Bestuhlung verfügte, erhielt er 1927 die Betriebsnummer „Dresden K704“. Diese Bezeichnung änderte sich 1938 in „704 Dre“, zwölf Jahre danach (1950) in 7.0704 sowie 1958 letztmalig in 970-855. Eine vermutlich Mitte der 1920er Jahre auf der Linie Kohlmühle – Hohnstein entstandene Aufnahme des Wagens als 290K belegt seinen Einsatz in dieser Zeit auf der Schwarzbachbahn. Eine Aufnahme aus dem Jahr 1937 zeigt den als „Dresden K704“ beschrifteten Wagen auf dem Gelände des Bahnhofes Köttewitz im Müglitztal. Diese Fotografie beweist, dass der Wagen – nachdem 1928 die 4. Klasse entfallen war – inzwischen vollständig der 3. Klasse zugeordnet war. Von 1944 bis 1948 ist der Oberlichtwagen im Bestand des 1936 in Goßdorf-Kohlmühle umbenannten Ausgangsbahnhofes der Schwarzbachbahn nachgewiesen. Von hier erfolgte im Jahr 1948 die Abgabe des nunmehrigen „704 Dre“ gemeinsam mit dem Schwesterwagen „446 Dre“ an die Landesbahnen Brandenburg (LBB) für den Einsatz im Prignitzer Schmalspurnetz. Ab 1949 befanden sich beide Wagen in der Obhut der RBD Schwerin, wo sie als Wagen des „Netzes Perleberg“ 1958 die Betriebsnummern 970-855 und 970-856 (ex „446 Dre“) erhielten.
War letzterer in der Prignitz in seinen letzten Einsatzjahren ohne Oberlicht, aber mit Blechverkleidung unterwegs, so behielt 970-855 sowohl seinen Dachaufsatz als auch seine hölzerne Außenbeplankung. Und noch etwas war in ursprünglicher Form erhalten geblieben: Obwohl 1956 die 3. Klasse abgeschafft wurde, war der Wagen (wie so viele andere Fahrzeuge in Europa auch) im Inneren unverändert. Er war mit Holzlattenbänken bestuhlt! Am 16. Mai 1969, also zwei Wochen vor der Einstellung des Betriebes auf dem Kernnetz um Lindenberg am 31. Mai 1969, beantragte die Rbd Schwerin bei der Hauptverwaltung Wagenwirtschaft (HvW) die Absetzung des Wagens vom Bestand (Ausmusterung) zum 1. Juni 1969. Die HvW stimmte dem zu, so dass der inzwischen 70-jährige Sachse – wie alle anderen in Lindenberg, Pritzwalk und Perleberg noch vorhandenen gedeckten Güter- und Reisezugwagen – ab Juni 1969 zum Verkauf stand. Nach der Zahlung von 350 Mark (der DDR) wurde gemäß Kaufvertrag vom 29. Juli 1969 schließlich Ernst Schulze aus Lindenberg zum neuen Eigentümer des Wagens. Um den Wagenaufbau besser in seinen Hof bugsieren zu können, blieben in diesem Fall die Drehgestelle unter dem Fahrzeug – eine Lösung, die in der Prignitz häufiger zur Anwendung kam!
Etwa zehn Jahre nutzte der Lindenberger den mit Drehgestellen, Kupplungen, Dachlüftern und Heberleinbremse technisch kompletten Schmalspurwagen in seinem Garten als Hühnerstall. Um 1978 zerlegte er das Fahrzeug, da sich der Zustand der hölzernen Außenverkleidung stark verschlechtert hatte. Drehgestelle, Rahmen und alle übrigen Stahlteile führte er den Rohstoffkreislauf zu – 970-855 in Erstbelegung war 1980 nicht mehr existent!
Der Wagen 970-855 Zweitbesetzung
Zum Aufbau eines für die Prignitz typischen Museumszuges prüften die Mitglieder des PKML in den 1990er Jahren natürlich auch, ob der in Wahrenberg bei Wittenberge noch vorhandene Kasten von 970-856 für eine Reaktivierung geeignet wäre. Doch dieser „sächsische Oberlichtwagen ohne Oberlicht“ wies bereits damals starke Korrosionsschäden im Rahmenbereich auf, so dass die Eisenbahnfreunde von einer Bergung dieses blechverkleideten Aufbaus Abstand nahmen.
09.02.2013