Fahrzeuge im Porträt
Der vierachsige Gepäck-/Postwagen 976-101
Ein Einzelstück nicht nur für den „Pollo“
Vierachsige Gepäckwagen gab und gibt es bei vielen deutschen Schmalspurbahnen. Führte deren Betrieb von Anfang an eine Staatsbahn, so sind auch reine Postwagen auf schmalspurigen Eisenbahnen keine Ausnahme. Den in Preußen nach dem Kleinbahngesetz betriebenen Regel- und Schmalspurbahnen stand hingegen vergleichsweise wenig Geld für Betriebsmittel zur Verfügung. Sparsamkeit galt hier als oberstes Gebot. Aus diesem Grund beschafften mehrere Privat- und Kleinbahnen kombinierte Sitz-, Gepäck- und Postwagen – erinnert sei an die beiden derartige Fahrzeuge bei der Trusebahn in Thüringen. Die im Nordwesten der Mark Brandenburg liegende Prignitz erschlossen einst nicht die Preußischen Staatseisenbahnen, sondern drei regel- und fünf schmalspurige Kleinbahnen, die als Ost- und Westprignitzer Kreiskleinbahnen bekannt sind. Dazu zählte die 1907/08 eröffnete 750-mm-spurige Kleinbahn Lindenberg – Pritzwalk (abgekürzt mit LP). Diese Gesellschaft beschaffte im Eröffnungsjahr ihres Abschnittes Lindenberg – Kuhsdorf von der Sächsischen Waggonfabrik in Werdau einen vierachsigen kombinierten Gepäck-/Postwagen und stellte ihn Ende 1907 mit der Betriebsnummer 28 in Dienst. Bei diesem mit der Fabriknummer 2444 gebauten Fahrzeug handelte es sich um ein Einzelstück – weder die im Volksmund „Pollo“ genannten 750-mm-Kleinbahnen in der Prignitz noch andere deutsche Schmalspurbahnen bestellten in Werdau einen zweiten Wagen dieses Typs.
Der Einsatz des Unikates
In der Prignitz erfüllte der ab Werk blechverkleidete Vierachser die in ihn gesetzten Erwartungen in vollem Umfang. Der ohne Oberlicht, aber mit einem Aufsatz für die Görlitzer Gewichtsbremse versehene Wagen diente ab 1907 dem Gepäcktransport sowie zugleich als Zugführer- und als Postwagen. Neben dem Wagen Nr. 28 gab es beim „Pollo“ noch fünf kombinierte Gepäck-/Postwagen, jeweils als Zweiachser. Obwohl von einer Kleinbahn beschafft, kamen sie meist auf mehreren Strecken in dem betrieblich von der Prignitzer Eisenbahn AG geführten Netz zu Einsatz. Anfang der 1920er Jahre verlagerte die Reichspost die Postbeförderung auf die Straße. Daraufhin entfiel bei den fünf zweiachsigen Gepäck-/Postwagen im Jahr 1924 das Postabteil, lediglich im vierachsigen Wagen 28 blieb es erhalten. Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm die Post mangels Lkw den Bahnpostverkehr wieder auf. Zwischen Perleberg und Kyritz nutzte sie dazu einen zweiachsigen Wagen. Der vierachsige Wagen 28 kam im Sommer 1948 nach Glöwen. Ab Anfang September verkehrte er von dort auf der mit 750 mm Spurweite wiederaufgebauten ehemaligen Regelspurstrecke nach Havelberg. Für den Betrieb dieser Strecke hatte die Reichsbahndirektion Dresden im Jahr 1948 auch den vierachsigen Gepäckwagen „1787 Dre“ (lfd. Nr. 751) aus Mügeln an die Landesbahnen Brandenburg verliehen. Nachdem dieses Fahrzeug ein Postabteil erhalten hatte, wechselte der Wagen 28 auf das „Stammnetz“ der Prignitzer Schmalspurbahnen zurück. Im Jahr 1949 übernahm die Deutsche Reichsbahn auch die Betriebsführung der schmalspurigen Kleinbahnen in der Prignitz sowie der Strecke Glöwen – Havelberg. Im Anschluss wies die Reichsbahndirektion Schwerin dem Wagen 28 im Jahr 1950 die Betriebsnummer „7.1921 Schw“ sowie die Gattungsbezeichnung Pw4Post zu. Entsprechend trug die Deutsche Reichsbahn für dieses Fahrzeug in den Plan zur für 1958 vorgesehenen Umzeichnung aller Reisezugwagen als neue Betriebsnummer die 976-101 ein. Allerdings endete der Bahnpostverkehr auf den „Netz Perleberg“ genannten Schmalspurbahnstrecken bereits 1956. Seitdem kam der Wagen als reiner Gepäck- und Zugführerwagen zum Einsatz. Als solcher hätte er eigentlich wie die vierachsigen Gepäckwagen in Sachsen, auf Rügen und auf allen anderen 750-mm-Netzen der Deutschen Reichsbahn mit der Stammnummer 974- geführt werden müssen. Doch das Unikat erhielt 1958 die ihm einmal auf dem Papier zugewiesene Betriebsnummer 976-101 angeschrieben.
(Einschub: Der aus Mügeln stammende Gepäckwagen mit nachgerüstetem Postabteil sollte 1958 als Pw4Post zum 976-111 umgezeichnet werden. Da es 1958 keinen Postverkehr mehr gab, erhielt er mit 974-491 aber eine korrekte Betriebsnummer. Warum hingegen beim ehemaligen Wagen 28 nicht ebenfalls eine 974er-Nummer angeschrieben wurde, ist nicht nachvollziehbar.)
Das fortan als KD4 976-101 beschriftete Einzelstück blieb bis Ende Mai 1969 auf dem Stammnetz der Prignitzer Kleinbahnen als Gepäckwagen im Einsatz. Er verkehrte hauptsächlich gemeinsam mit den aus der Reichsbahndirektion Dresden zum Netz Perleberg umgesetzten sächsischen Sitzwagen 970-878, 970-885 und 970-890 in einem Zugverband auf der Strecke Kyritz – Breddin. Bei einer Untersuchung in der Werkabteilung (WA) Perleberg des Raw Wittenberge erhielt der Wagen im April 1959 einen Generator und Pufferbatterien für eine 24-Volt-Beleuchtung. Bei der Untersuchung im September 1962 ersetzten die Mitarbeiter der WA die symmetrischen Doppeldrehtüren des Postabteils durch asymmetrische, ein Jahr später bauten sie in die Trennwand zwischen Gepäck- und Postabteil eine Tür ein. Am 31. Dezember 1967 fuhr der 976-101 im Abschiedszug der Strecke Lindenberg – Glöwen mit. Bei der Einstellung der restlichen Linien des Stammnetzes war das Unikat am 31. Mai bzw. 1. Juni 1969 ebenfalls in die letzten Züge eingestellt. Aufgrund seines vergleichsweise geringen Gewichtes und seiner guten Fahreigenschaften als Drehgestellwagen nutzte die Rbd Schwerin den vierachsigen Wagen ab Juni 1969 auf der Strecke Glöwen – Havelberg weiter. Im September 1969 entfielen die durchgehenden Trittbretter entlang des Wagenkastens. Dafür brachten die Schlosser in Perleberg zwei einzelne Trittbretter unter den Einstiegen an. Zum 26. September 1971 stellte die Rbd Schwerin den Verkehr zwischen Glöwen und Havelberg ein. Wie schon Ende 1967 und 1969, so fuhr der Wagen 976-101 auch am 25. September 1971 im letzten Zug mit. Danach gab es für das lediglich mit Görlitzer Gewichtsbremse ausgerüstete Unikat keine weitere Einsatzmöglichkeit und die Rbd Schwerin musterte den Wagen am 12. Oktober 1971 aus. Wie für fast alle in den 1960er und 1970er Jahren in der DDR aus dem Betriebsdienst ausgeschiedenen Schmalspurwagen mit Dach, so fand sich auch für den 976-101 ein Interessent zur Nachnutzung als Lagerschuppen. Die Rbd Schwerin verkaufte den Kasten des Wagens am 16. November 1971 an Karl Buss aus Perleberg. Dieser holte ihn am 15. Februar 1972 in Glöwen ab und brachte ihn auf sein Privatgrundstück nach Premslin, wenige Kilometer nordwestlich von Perleberg.
Die Bergung des Wagenkastens
Mehr als zwei Jahrzehnte später entdeckten Mitglieder des im Mai 1993 gegründeten Vereins „Prignitzer Kleinbahnmuseum Lindenberg e. V.“ (PKML) den Wagenkasten 1993 in Premslin. Zu diesem Zeitpunkt trug er noch die Anschriften vom Havelberger Abschiedszug „15.2.1890 – 25.9.1971“. Im Jahr 1994 bargen die Eisenbahnfreunde den Aufbau und stellten ihn auf dem Vereinsgelände in Mesendorf auf. An seinem neuen Standort diente der Wagenkasten den Mitarbeitern der ABM als Aufenthaltsraum und Werkstatt sowie als Lager für Gleisbaumaterialien. Im Jahr 2000 wechselte der Wagenkasten seinen Standort – die nächste Zeit verbrachte er in Brünkendorf – ebenfalls wieder als Lager und Aufenthaltsraum. Eine betriebsfähige Aufarbeitung des Unikates erschien dem damaligen Vereinsvorsitzenden aufgrund des schlechten Gesamtzustandes und dutzender anderer Projekte mittelfristig als unmöglich. Im April 2009 holten Vereinsmitglieder den Kasten dennoch auf ein ehemaliges LPG-Gelände nach Lindenberg, um weitere Schäden durch die bisherige Nutzung zu vermeiden. Bei einer Bestandsaufnahme konstatierten sie die Verwendbarkeit mehrerer Baugruppen für einen Neuaufbau. Daraufhin hoben die Vereinsmitglieder den mit Blech verkleideten hölzernen Aufbau am 31. Mai 2011 von seinem stählernen Rahmen.
Die Aufarbeitung des Wagens
Anfang Juli 2012 wurde der Rahmen des Vierachsers in Lindenberg zunächst sandgestrahlt und anschließend grundiert, um die Korrosion zu stoppen. In den folgenden Jahren genoss die betriebsfähige Aufarbeitung der Sitzwagen 970-855 (Neuaufbau bis 2013) und 970-851 (Neuaufbau bis 2014) eine höhere Priorität. Arbeiten am KD4 976-101 mussten zurückgestellt werden, was aber nicht heißt, dass das Projekt damals komplett ruhte. Denn wenn im Rahmen der Aufarbeitung der genannten Sitzwagen bestimmte Teile neu entstanden, die auch am 976-101 fehlten, dann ließ der Pollo-Verein diese Baugruppen gleich für ihn mit neu anfertigen. Im August 2015 begann dann die Instandsetzung des 1907 in Werdau gebauten Rahmens. Dazu gehörte das Erneuern der beiden Langträger und der Kopfstücke. Im Dezember 2015 bereiteten die Pollo-Freunde den Wagenkasten auf den Transport in eine Fachwerkstatt vor. Nachdem am 3. Februar 2016 der Zuwendungsbescheid von Lottomitteln für den Neubau des Wagenkastens beim Verein eingetroffen war, ließ der PKLM. den Aufbau am 11. Februar 2016 nach Zwönitz ins Erzgebirge bringen. Dort ist die in derartigen Arbeiten erfahrene Tischlerei Hübner ansässig, die entsprechend den Auftrag zum originalgetreuen Neubau des Aufbaues erhielt. Um die Kosten so gering wie möglich zu halten, demontierten Mitglieder des Pollo-Vereins bei einem Arbeitseinsatz in Zwönitz am 12. Juni 2016 an der Bauvorlage die Bleche der Außenverkleidung. Am 2. August 2016 verbanden Vereinsmitglieder in Lindenberg die neuen Kopfstücke des Rahmens mit den Langträgern. Dabei richteten sie die Gesamtkonstruktion und begannen mit dem Verbinden aller Bauteile mit Nietpassschrauben. Ebenfalls im August 2016 begann die Tischlerei Hübner in Zwönitz mit dem Neubau des Wagenkastens. Ende des Monates war die Grundplatte fertiggestellt; am 29. September standen die Seitenwände und waren die Dachspriegel montiert – das bot den Anlass für ein Richtfest. Im Monat November montierten die Beschäftigten der Tischlerei Hübner die Innenverkleidung. Anfang Februar 2017 nahm der PKML den neu gebauten Wagenkasten in Zwönitz baulich ab. Zuvor hatte am 12. Dezember 2016 eine Fachfirma den Rahmen des Wagens in Lindenberg nochmals sandgestrahlt, wonach ihn Vereinsmitglieder auf den von 970-812 stammenden Hilfsdrehgestellen auf der Museumsbahn nach Mesendorf überführt hatten.
Spendenaktion für den Endspurt
Möglich waren alle bisherigen Arbeiten aufgrund der Auszahlung von Lottomitteln durch das Land Brandenburg sowie durch mehrere großzügige Spenden eines Pollo-Freundes. Da diese Gelder mit dem Neubau des Wagenkastens und der Rahmenträger erschöpft sind, startete der Pollo-Verein im Januar 2017 eine Spendenaktion zum Neubau von zwei Weyerdrehgestellen. Allein dafür sind 30 000 Euro veranschlagt. Den Neubau soll die Firma BMS im sächsischen Ostritz bei Zittau ausführen. Dieses Unternehmen hat bereits ein baugleiches Drehgestellpaar für den originalen Prignitz-Personenwagen 970-851 angefertigt, die sich unter diesem Vierachser seit dessen Wiederinbetriebnahme bestens bewährt haben. Für den 976-101 müssen nun erneut vier Radsätze beschafft und die beiden Drehgestellrahmen einschließlich Bremsanlagen neu angefertigt werden. Um dies finanzieren zu können, bittet der PKML alle Freunde des Pollo, den Verein mit Spenden zu unterstützen – siehe Anzeige im PK 154, Seite 41 – oder im Netz unter www.pollo.de.
Wiederinbetriebnahme im Mai 2018?
Bis zum Mai 2017 soll die Aufarbeitung des Rahmens inklusive des Einbaues einer mehrlösigen Druckluftbremse abgeschlossen sein. Danach beginnt die Komplettierung des Wagenkastens, der dazu voraussichtlich im Juli dieses Jahres aus dem Erzgebirge in die Prignitz kommen wird. In Mesendorf erhält er eine Blechverkleidung und die elektrische Anlage. Zur Inneneinrichtung des Wagens gehören zwei Kohleöfen. Eine Wiederinbetriebnahme des vor 110 Jahren in Sachsen gebauten Unikates im Jahr 2017 ist nicht möglich. Das Ziel ist es, ihn aber im Mai 2018 auf der Museumsbahn in Dienst zu stellen. Dann feiert der Pollo-Verein sein 25-jähriges Bestehen. Die größte Hürde ist bis dahin die Finanzierung des Neubaues der Drehgestelle. Ist diese genommen, dann dürfte der Einsatz des 111-jährigen Einzelstückes 976-101 zwischen Mesendorf und Lindenberg ein Höhepunkt für die Jubiläumsfeier des Vereins sein!
14.04.2017