Verkehrspolitik
Regeln während einer Pandemie – aktuell und in der Vergangenheit
1. Aktuelle Entwicklung
Seit Mitte März 2020 hat die „Corona-Krise“ Deutschland und viele andere europäische Länder fest im Griff. Abgesehen von vergleichsweise glimpflichen Grippewellen und Tierseuchen hat es in Mitteleuropa seit fast 100 Jahren keine so gefährliche und das Gesundheitssystem so stark beanspruchende Pandemie gegeben, wie die durch das Virus Sars-CoV-2 ausgelöste. Durch fehlenden Impfstoff und andere Gegenmittel ist ein Ende dieser Krise bisher nicht absehbar. Die deutschen Behörden verfügten in den 16 Bundesländern, teils sehr unterschiedlich schnell, die Schließung von Kindereinrichtungen, Schulen, öffentlichen Einrichtungen und Behörden sowie Geschäften. Dadurch waren alsbald auch eigentlich nicht direkt betroffene Unternehmen betroffen und mussten ihren Geschäftsbetrieb einstellen oder reduzieren, u. a. weil Eltern zur Kinderbetreuung zu Hause bleiben mussten. Von den Allgemeinverfügungen, Schließungsanordnungen, Betriebseinstellungen oder Nutzungsverboten waren die öffentlichen Ver- kehrsmittel – egal ob Busse oder Bahnen – nicht betroffen. Diese durften bzw. sollten weiterhin fahren, auch wenn sich manche Äußerungen bezüglich latenter Ansteckungsrisiken durch offizielle Bedenkenträger immer noch nachhaltig negativ auf das Nutzungsverhalten auswirken. Durch die diversen Maßnahmen wurde fast überall ein Einbruch der Fahrgastzahlen um bis zu 90 % konstatiert.
2. Neue Hygieneregelwerke
Besondere Regeln gibt es im aktuell gepflegten betrieblichen Regelwerk der Verkehrsunternehmen für den Umgang mit einer Infektionskrankheit nicht, zu sehr ist dieses Thema zum Gesundheitsschutz auf der allgemeinen gesellschaftlichen Ebene platziert, als dass sich privatwirtschaftlich organisierte Unternehmen mit spezifischen Regeln im Umgang mit einer Pande- bzw. Epidemie beschäftigen müssten – zumal über viele Jahre dafür kein Bedarf bestand. Während im März und anfänglich im April 2020 noch eine latente Unsicherheit und Variabilität über die anzuwendenden Hygieneregeln galt – das Tragen der Mund-Nasen-Masken ab 15. April als Empfehlung der Länder und des Bundes zunächst noch nicht zwingend geregelt war und erst ab 29. April bundesweit zur Pflicht erhoben wurde, gab es schnell Nies- und Hust-Etikette-Regeln und Hygienegebote, die maßgeblich vom Robert-Koch-Institut (RKI) aufgestellt und weiterentwickelt worden sind. Für den Großteil der Verkehrsbetriebe in Deutschland ist der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) in die erkannte Regelungslücke für die spezifisch im Verkehrssektor geltenden Besonderheiten eingetreten und unterstützte mit entsprechendem Informationsmaterial und Vorlagen die individuellen Regelungsbedürfnisse der Betriebe des öffentlichen schienen- und straßengebundenen Verkehrs. Daraus leiteten die Betreiber dann jeweils ihre dienstlichen Anweisungen oder Bestimmungen ab. Die Deutsche Bahn AG und zugehörige Konzerngesellschaften setzten dies über ihr zentrales Regelwerk entsprechend um. Inwieweit sich derartige Vorgaben langfristig tatsächlich auch in den betrieblichen Regelwerken der Verkehrsunternehmen niederschlagen werden, hängt nicht zuletzt sicherlich von der weiteren Dauer der Pandemie und der Wirksamkeit von in Entwicklung befindlichen Impfstoffen und auch der gesundheitspolitischen Einschätzung ab.
3. Frühere Seuchenschutzvorschriften
Wenn bei uns heute dank eines gut funktionierenden Gesundheitswesens Epidemien selten geworden sind, war das in der Zeit des Aufkommens öffentlicher Massentransportmittel noch anders. Wissenschaftliche Analysen belegen, dass sich manche Krankheiten seit den 1890er Jahren durch das Verkehrsmittel Eisenbahn schneller ausgebreitet haben. Aufgrund des in Deutschland großflächig als zunächst länderhoheitlich und ab 1920 gesamtstaatlich organisierten Eisenbahnwesens gehörte die Regelungshoheit für die Bekämpfung von Infektionskrankheiten im Eisenbahnwesen logischerweise mit in die Hand dieser Eisenbahnverwaltung. Die vom „Deutschen Eisenbahn-Verkehrsverband“ mit Gültigkeit ab 1. Januar 1925 herausgegebene „Dienstanweisung zur Bekämpfung ansteckender Krankheiten im Eisenbahnverkehr“ stellt dazu eine erste Fassung der später von der Deutschen Bundesbahn (DA 623) und der Deutschen Reichsbahn (DV 623) weitergeführten Vorschriften dar. Interessanterweise galt auch für die ab dem 1. November 1963 geltende DV 623 der Deutschen Reichsbahn in der DDR mit gleichem Namen der Vorschrift noch die gesetzliche Grundlage der Eisenbahn-Verkehrsordnung vom 8. November 1938.
Auch wenn sich der Vorschriftentext von 1963 in sprachlichen Details von heutigen Regeltexten unterscheidet, ist die Zielrichtung der in der DV 623 verfolgten Forderungen praktisch auch heute noch anwendbar (Auszug):
§ 5 Erkrankung während der Fahrt
(1) Treten bei Reisenden besonders auffällige krankhafte Erscheinungen (z.B. Schüttelfrost, Fieber, Erbrechen, Durchfall) auf, die auf eine übertragbare Krankheit schließen lassen, hat der Zugschaffner dies dem Zugführer sofort zu melden und zu versuchen, einen Arzt zu erreichen; dabei ist alles zu vermeiden, was zu unnötigen Besorgnissen unter den Reisenden oder der übrigen Bevölkerung Anlaß geben könnte. … (4) Wird vom Arzt eine übertragbare Krankheit oder der Verdacht auf eine solche festgestellt, sind das Wagenabteil oder der Wagen, in dem sich der Kranke befindet, und der ihm zur Verfügung gestellte Abort sofort nach Anlage 1 vom Zub zu kennzeichnen. Der Kranke darf das Wagenabteil nicht verlassen, außer zur Benutzung des vom Zub zugewiesenen Aborts. … (7) Ansteckungsverdächtige Reisende sind von dem Kranken und den übrigen Reisenden zu trennen und gesondert unterzubringen. Als ansteckungsverdächtig gelten alle Personen, die nachweislich engeren Kontakt mit dem Kranken hatten. Das kann bedeuten, daß ein ganzer Wagen oder Wagenstock für seuchenhygienische Maßnahmen in Anspruch genommen werden muss. … (10) Das Zub hat sich, wenn es mit dem Erkrankten in Berührung gekommen ist, sorgfältig die Hände mit Seife und Handwaschbürste zu reinigen … (11) Das Zub, das mit dem Kranken in Berührung gekommen ist, ist als ansteckungsverdächtig anzusehen und am Zugendbahnhof sofort von seinen dienstlichen Aufgaben bis zur ärztlichen Entscheidung über seine Einsatzfähigkeit zu entbinden.
Die Anlage 4 der Vorschrift beschreibt im Weiteren die Regeln zur Durchführung von Desinfektionsmaßnahmen, die mit den in der Anlage 6 aufgeführten Desinfektionsmitteln für Wäsche-, Hände-, Scheuer- bzw. Stuhldesinfektion anzuwenden sind. Ob die darin benannten Mittel aus diversen Gründen festgestellter Nebenwirkungen für die Gesundheit oder die Umwelt heute noch zulässig oder erhältlich wären, steht natürlich auf einem anderen Blatt.
4. Abschließender Hinweis
Dieser Artikel erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit – insbesondere hinsichtlich der Gültigkeit aktueller Regeln. Aufgrund der vergleichsweise kurzen Aufenthaltszeit von Reisenden in Zügen (im Vergleich zu Flugzeugen und Schiffen) sind die aktiven Beeinflussungsmöglichkeiten der Bahnbetreiber in einer Pandemiesituation eher gering und die Mitwirkung der Reisenden zur Einhaltung allgemein festgelegter Regeln muss als maßgebliche Forderung stehen, da den Verkehrsunternehmen die Möglichkeiten und Fähigkeiten zur hoheitlichen Umsetzung von Schutzmaßnahmen nicht zustehen.
12.08.2020