Schmalspurbahn-Geschichte
Vor 45 Jahren: der letzte Abfahrauftrag von Lommatzsch nach Löthain
Es ist der 28. Oktober 1972, 10 Uhr. Der Bahnhof Lommatzsch wirkt verlassen. Nur auf dem Gelände der Schmalspurbahn stehen einige Personen. Sie warten mit Blumensträußen in der Hand auf die Lok, die noch am Heizhaus gepflegt wird. Auf Gleis 2 steht der letzte planmäßige Zug bereit. Ein Gepäckwagen, ein Personenwagen sowie einige offene und gedeckte Güterwagen, das ist der Gmp 69908. Auf dem Nachbargleis stehen weitere Reisezug- und Güterwagen, denen anzusehen ist, dass sie ihre letzte Fahrt bereits hinter sich gebracht haben. Zerbrochene Fensterscheiben, fehlende Seitenbretter und die Gleise mit Unkraut überwuchert, so sieht es heute in Lommatzsch aus. Zwischen den mit kleinen Bäumen bewachsenen Gleisen liegen umgefallene Schilder, schnell wird für jeden Betrachter klar, hier stirbt eine Eisenbahnstrecke. Nach 63-jährigem Betrieb rollt heute nun der letzte Zug. Aus diesem Anlass haben sich weitere Reisende auf dem Bahnsteig eingefunden: Männer in Eisenbahneruniform, Freunde der Eisenbahn und ältere Bürger, die vermutlich schon als Kind bei der Eröffnungsfahrt anwesend waren. Gleich ist es 10.30 Uhr. Mit einem langgezogenen und einem folgenden kurzen Pfiff verlässt die Lok 99 1562-0 das Behandlungsgleis vor dem Heizhaus und setzt sich in langsamer Fahrt an unseren Zug. Eine Länge – halbe Länge – Meter – gekuppelt. Einer der mitgebrachten Blumensträuße wird dem Lokführer überreicht und findet sogleich seinen Platz am Kohlekasten. Der Strauß wird den Zug auf seiner letzten Fahrt begleiten. Von allen Seiten wird inzwischen fotografiert, um dieses historische Ereignis im Bild festzuhalten. Mehrere noch aktive und schon im Ruhestand befindliche Eisenbahner stellen sich für ein Abschiedsfoto vor der IV K auf. Auch werden mitgebrachte Fotos aus der Betriebszeit angeschaut und unter den Teilnehmern der letzten Fahrt getauscht. Schnell machen alte Geschichten die Runde, Erinnerungen an die „gute alte Zeit“ werden wach. Derweil werden im Gepäckwagen die letzten Fahrkarten verkauft. Zum letzten Mal steht heute auf den Pappkärtchen: Lommatzsch – Löthain. Andere Fahrgäste haben inzwischen im Personenwagen Platz genommen, wo es gemütlich warm ist. Der Kohleofen, vor dem ein gefüllter Eimer mit Briketts steht, heizt noch ein letztes Mal die „Klasse“. Auf einem der Regelspurgleise stellt eine Diesellok mit Zuckerrüben gefüllte Waggons zusammen, doch das erzeugt heute bei den meisten der Fahrgäste keinerlei Interesse. Stattdessen werden Erinnerungen an die Zeit wach, als aufgerollte Güterwagen über die Schmalspurstrecke rollten. Bis auf einige Rollwagen ist davon nichts übriggeblieben. Diese Rollfahrzeuge sind halb vom Unkraut versteckt neben der Verladerampe für Schmalspurfahrzeuge abgestellt und werden von niemand mehr beachtet. Auf einem Transportwagen steht an der Auffahrrampe verlassen die IV K 99 1608-1. Sie hatte von Anfang Oktober bis zum Vortag in Lommatzsch ausgeholfen. Nun ging sie zurück nach Mügeln. Inzwischen ist die Zeit zur Abfahrt unseres Zuges herangerückt. Eisenbahner tragen noch schnell zwei Bänke – von ihnen als „Rentnerbänke“ bezeichnet – heran, um diese im Gepäckwagen aufzustellen. Ein Kasten Meißner Bier kommt noch dazu, für den Abschiedstrunk. Der Personenzug ist unterdessen bis auf den letzten Platz gefüllt, es ist ja auch gleich 11.05 Uhr. Vom Bahnhofsvorplatz kommt der „Rotmützige“. Händeschütteln, fotografieren und dann heißt es: „Alle einsteigen!“ 11.08 Uhr: Abfahrt zur letzten Fahrt nach Löthain! Ein kurzer Ruck und schon setzt sich unser Zug in Bewegung. Die letzten Fotografen springen erst jetzt auf unseren Zug auf. Die Zurückbleibenden winken dem ausfahrenden Zug hinterher. Mit 10 km/h streben wir nun unserem Ziel Löthain entgegen. Weit ins Meißner Land sind die Pfiffe der Lok zu hören, ein letzter Gruß an die Einwohner, die tagein, tagaus mit der Bahn gelebt haben. Schon bald ist Löthain erreicht. Wieder werden unzählige Fotos geschossen, schließlich soll eine Erinnerung an diesen denkwürdigen Tag erhalten bleiben. Nach drei Stunden trifft der Zug wieder in Lommatzsch ein. Die Fahrgäste haben noch einmal viele Eindrücke und Erinnerungen an „ihre“ Bahn aufgesogen und werden noch ihren Enkeln von diesem Tag berichten können. Unsere Wagen werden zu den anderen gestellt und die Lok findet ihren Platz im Heizhaus. Das Personal steigt von der Lok und blickt noch einmal zu ihr, dann schließen sich die Heizhaustore. Es ist Feierabend! Schon bald wird das Feuer der Lok erloschen sein, die Gleise herausgerissen. Doch an diese idyllische Kleinbahnromantik und die letzte Fahrt werde ich mich immer zurückerinnern und mich an den erhalten gebliebenen Bildern dieser Schmalspurbahn erfreuen! Heinz Schwarzer (†), vermutlich nach einem Manuskript von Reiner Scheffler (†), neu bearbeitet von Stefan Müller, Glashütte
15.10.2017